12.02.2020
Armut und Reichtum verschärfen sich
Die Wissenschaftler Michael Hartmann und Franz Schultheis sprachen im Hospitalhof über die Spaltung der Gesellschaft
„Die gesellschaftliche Spaltung überwinden – Erkenntnisse aus der Eliten- Prekariatsforschung“ war der Titel einer Veranstaltung im Hospitalhof, die unter anderem von der Denkfabrik organisiert wurde. Wie sehr das Thema vielen Menschen unter den Nägeln brennt, zeigte sich am Andrang: 360 Besucherinnen und Besucher kamen. Eingeladen waren zwei Wissenschaftler, dich sich intensiv mit den Menschen beschäftigten, die in der gesellschaftlichen Schicht ganz unten und ganz oben stehen.
Franz Schultheis (Seniorprofessor an der Zeppelin Universität in Friedrichhafen) beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit Menschen in prekären Lebenslagen. An den Anfang seines Vortrags stellte er einen Satz des Soziologen Georg Simmel: „Wenn man eine Gesellschaft begreifen will, dann schaue man sich an, wie sie mit ihren Armen umgeht.“ Die Betrachtung der Armut habe sich seit den 1980er Jahren stark verändert: weg von der sozialökonomischen Betrachtung von Schichten hin zu der Betrachtung von Milieus, die nach Geschmacksvorstellungen eingeteilt werden. Insgesamt werde das Problem der Armut in Deutschland verkannt, stattdessen gäbe es ein tradiertes Bild einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“. Dem widersprach Schultheis: „Armut ist nicht einfach eine ökonomische Mangelage. Armut ist multiform, sie nimmt die gesamte Daseinsform eines Menschen in Beschlag. Sie geht häufig mit Krankheiten einher, mit Handicaps aller Art.“ Armut vererbe sich genauso wie der Elitestatus, so Schultheis.
Im Folgenden kam Schultheis auch auf die beiden Studien zu sprechen, die Interviews mit langzeitarbeitslosen Nichtwählern auswerteten und die er wissenschaftlich begleitet hat. Dass Langzeitarbeitslose die Gruppe sind, die am wenigsten zu Wahl gehen, sei keine Überraschung, denn sie würden unter einer extremen Form der Ausgrenzung leiden. „Sie haben das Gefühl, dass ihnen niemand zuhört und dass sich nichts ändert.“ Als Gegenstrategien empfiehlt Schultheis massive Änderungen im Sozialstaat, etwa kostenlose Kitas. Finanziert werden könnte dies durch höhere Vermögens- und Erbschaftssteuern. In einer so auf Leistung bedachten Gesellschaft wie der deutschen dürfte es großen ererbten Reichtum nicht geben.
Die Ärmsten müssen mehr für das Wohnen ausgeben, die Reichsten weniger
Michael Hartmann (ehemals Professor für Soziologie an der Universität Darmstadt) konnte an die letzten Gedanken anschließen und warf den Blick auf die Eliten. Auch er sieht eine tiefe Spaltung der Gesellschaft, die aber von Durchschnittwerten verdeckt würden. So würden im Mikrozensus Einkommen über 18.000 Euro statistisch nicht erfasst, gleichzeitig gäbe es 20.000 Einkommensmillionäre in Deutschland. Auch alle indirekten Steuern tauchten nicht in der Statistik über verfügbare Zahlen auf, ebenso wenig die Mieten. So habe sich die Belastung für Wohnkosten zwischen 1993 und 2013 sehr unterschiedlich entwickelt. Im Jahr 1993 habe das obere Fünftel 16 Prozent seines Einkommens für Wohnkosten aufwenden müssen, 2013 waren es nur noch 14 Prozent. Für das untere Fünftel stieg der Anteil im gleichen Zeitraum von 27 auf 39 Prozent.
„Es gibt eine Verschärfung der Armut und eine Verschärfung des Reichtums“, so Hartmann. Schuld daran seien politische Entscheidungen wie Hartz IV, der Niedriglohnsektor oder die faktische Abschaffung der Erbschaftssteuer für die größten Unternehmen. Grund für die politischen Entscheidungen sei, dass sich die Eliten fast nur aus sich selbst rekrutieren. Die Herkunft präge das Denken und Handeln „Sie bringen ein Denken mit, mit dem sie groß geworden sind und das ihre Entscheidung beeinflusst.“ Viele machten sich zwar ehrlich Sorgen, etwa wegen der Kinderarmut: „Doch wenn es praktisch wird und es geht ums Geld, ändert sich der Diskussionsstil.“ Auch Hartmann plädierte für eine Umverteilung von oben nach unten. Gleichzeitig müssten die Eliten aber auch diverser werden. Als Beispiel führte Hartmann den Journalismus an. Menschen aus den prekären Schichten hätten oft nicht einmal die Ressourcen für ein Praktikum. Dies könne man ändern, indem man Praktika ordentlich bezahle.
In der anschließenden Diskussion wurden verschiedene Aspekt noch einmal angesprochen, so die besseren Netzwerke in den oberen Schichten, Rüstungsausgaben, bürokratische Hemmnisse oder die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich.
Klaus Käpplinger, Vorstandsvorsitzender der Evangelischen Gesellschaft, erinnerte daran, dass nach der Bibel alle Menschen Ebenbilder Gottes sind und man seinen Status nicht vererben kann. Es gehe nicht nur um ökonomische Verbesserungen, sondern auch darum, dass die Menschen wahrgenommen werden und man mit ihnen spricht. Die Veranstaltung wurde vom EFAS (Evangelischer Fachverband für Arbeit und soziale Integration), dem KDA (Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt), dem Hospitalhof und der Denkfabrik der Neuen Arbeit organisiert.
Filmbeitrag zur Veranstaltung
Klicken Sie auf eines der untenstehenden Themen, um im Filmbeitrag dorthin zu springen:
- Begrüßung Dr. Rolf Ahlrichs, Hospitalhof Stuttgart
- Thematische Einführung Marc Hentschke, Vorstandsvorsitzender Evangelischer Fachverband für Arbeit und soziale Integration
- Impulsvortrag Prof. Franz Schultheis
- Impulsvortrag Prof. Michael Hartmann
- Gespräch und Diskussion
- Geistlicher Impuls, Resümee Pfarrer Klaus Käpplinger, Vorstandsvorsitzender Evangelische Gesellschaft Stuttgart e.V.