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Lesungen und Vorträge

 

 

19.02.2020

"Betroffene berichten - Kirche hört zu"

„Ich hatte gedacht, die haben kein Interesse daran, was draußen passiert“
In der Vesperkirche sprachen Menschen aus prekären Schichten und Kirchenvertreterinnen miteinander.
„Betroffene berichten – Kirche hört zu“ war der Titel einer Veranstaltung in der Vesperkirche. Dabei trafen arme Menschen aus der prekären Schicht und Vertreterinnen der Kirche aufeinander. Auch wenn zunächst viel Distanz zwischen beiden Seiten zu spüren war, wurde im Laufe des Abends klar, dass es Berührungspunkte gibt.

Begonnen wurde mit Lebensgeschichten und Erfahrungen mit der Kirche und Glauben von Jan Frier, Luise Janke Heiner Moser. Alle drei haben schwierige Lebensabschnitte hinter sich und waren über längere Zeiten arbeitslos. Jan Frier verlor seine Stelle beim Sparkassenverlag im Zuge einer Entlassungswelle und rutschte schließlich in  Hartz IV. Heute arbeitet er beim Filmprojekt der Neuen Arbeit. Obwohl er als Kind Kontakt zur Kirche hatte und bei den Hymnus-Chorknaben war, hat er sich als Jugendlicher der Kirche entfremdet. Konservative Pfarrer und die Ablehnung seiner langen Haare spielten eine Rolle. „Man hätte bestimmte Voraussetzungen mitbringen müssen, um dort willkommen zu sein“, meint er im Rückblick. Auch heute noch gehe er selten zur Kirche, sieht sich aber manchmal Gottesdienste im Fernsehen an. Er bevorzuge die Stille Andacht, etwa beim Wandern oder in leeren Kirchen. Inzwischen besucht Frier immer wieder Kirchengemeinden, um von seiner Lebenssituation zu erzählen. „Ich war positiv überrascht“, erzählt er, „die Leute waren interessiert. Ich hatte gedacht, die Leute wollten mehr unter sich bleiben, eine Art Bürgerverein, der kein Interesse daran hat, was draußen passiert.“ Ohne Kirche gäbe es nur einen Bruchteil der sozialen Einrichtungen, meint Frier. Er hofft außerdem darauf, dass die Kirche hilft, den Hass zu dämpfen, der in der Gesellschaft immer wieder hochkommt.

Soziales und politisches Engagement der Kirchen wird geschätzt

Luise Janke berichtete davon, dass sie durch eine Auseinandersetzung mit ihrem Arbeitgeber und den Tod ihrer Eltern in eine Krise geriet und schließlich in Hartz IV rutschte. Sie trat mit 18 aus der Kirche aus, „weil ich glaub das nicht“. Getauft und konfirmiert sei sie worden, weil sich das in ihrem Umfeld so gehörte. Heute sieht sie Änderungen in der Kirche, zum Beispiel mehr Frauen. Auch sie hat bereits viele Kirchengemeinden besucht und schätzt besonders, dass die Kirche sich für soziale Anliegen einsetzt. „Kirche macht heute eine bedeutende politische Arbeit“, so Janke, bei sozialen Fragen denke sie zuerst an die Diakonie, dann erst an die Parteien. Trotzdem spürt sie auch immer noch eine Distanz. Als sie aus der Kirche austrat, habe bei ihr – aus einer Arbeiterfamilie stammend – niemand aus der Kirche nachgefragt, warum. Wäre sie nicht aus einer bürgerlichen Weingärtnerfamilie gekommen, „hätten sie mehr geschrien“, ist Janke überzeugt.
Heiner Moser arbeitet im Kulturwerk und hat sich aus einer Alkoholsucht wieder herausgearbeitet. In seiner Kindheit hatte der Vater die ganze Familie aus der Kirche abgemeldet, nach einem Streit mit einem Religionslehrer. Moser erzählt, dass er sein ganzes Leben auf der Suche war, sich viel mit Religion und Spiritualität beschäftigt hat. „Ich lasse mich treiben und bin auf dem Weg. Das muss wachsen“, meint er. „Ein richtig gläubiger Christ bin ich nicht, ich denk, ich habe einen Kontakt zu Gott und zwar permanent.“ Allerdings: „Das mit Jesus funktioniert nicht ganz.“

Die Kirche ist mittel- und oberschichtsorientiert

Bei den Antworten der Kirchenvertreterinnen wurde deutlich, dass die Kirchen sich schwer tun, auf Menschen aus prekären Schichten zuzugehen. Die Kirche sei bei vielen Formaten mittel- und oberschichtsorientiert, so Gabriele Arnold, Regionalbischöfin der Prälatur Stuttgart: „Milieuverengung macht auch blind.“ Hervorgehoben wurde der „Teilhabegutschein“, der über die letzten Jahre von der Landeskirche und dem Diakonischen Werk finanziert wurde, und mit dem Langzeitarbeitslose unterstützt wurden. Dieser wurde von den Kirchengemeinden ausgegeben, so kam es zu Kontakten und teilweise auch längerfristigen Beziehungen. „Der Teilhabgutschein ist gut, weil er beide Seiten zum hingucken zwingt“, so die Zuffenhausener Dekanin Elke Dangelmaier-Vinçon. Das bestätigt auch Stefanie Riedner vom Sozialdienst des Kulturwerks. Sie hat inzwischen Kontakt zu 60 Pfarrern, die Teilnehmer/-innen würden auch teilweise zu Gemeindefesten eingeladen. Marianne Baisch, Pfarrerin in Botnang, beeindruckte an den Erzählungen, dass die Betroffenen selbst Schritte unternommen haben, um aus ihrer Situation herauszukommen. Die Botnanger Gemeinde unterstütze Menschen, die wenig Geld haben, bei der Konfirmation. Arnold könnte sich auch vorstellen, dass auch Taufen mehr als Gemeindefest gestaltet werden, so könnte man Menschen aus prekären Schichten stärker einbeziehen.
Am Ende wünschten sich alle mehr Kontakt und Begegnungen und vereinbarten auch schon Termine. Dangelmaier-Vinçon forderte die ehemals Langzeitarbeitslosen auf, weiterzumachen: „Sehen Sie sich nicht als Einzelperson, sondern als Anwalt für die, die sich nicht trauen.“