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Buchbesprechungen

Wissen ist ein elementarer Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft und viel Wissen findet sich in Büchern. Die Demokratiebegleiter/-innen wählen deshalb Bücher mit gesellschaftlich relevanten Themen aus. Das Besondere dabei ist, dass sie diese auch selber rezensieren.

 

Anna Mayr

Die Elenden
Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht

Hanser Berlin 2020
208 Seiten, 20 Euro


buchbesprechung die ElendenBitte eine Buchbesprechung … Nun liegt das Buch vor mir. Anmutung etwas klassisch. Der Titel erinnert an Victor Hugo, dessen Werk unter anderem als Musical „Les Misérables“ bekannt wurde. Die Autorin Anna Mayr, eine Journalistin der renommierten ZEIT, bekam durch ihre Eltern viel mit Arbeitslosigkeit und damit auch mit Hartz IV zu tun, hatte dabei aber das Glück, nie selbst als Erwachsene in Hartz IV zu landen. Ihre Eltern und Stipendien halfen ihr, rauszukommen und sich ihren Traum, Journalistin zu werden, verwirklichen zu können.

Mayr verknüpft eigene Erfahrungen aus geldknappen und einkommensstarken Zeiten, aus Gesprächen mit anderen, berufliche Recherche, Geschichten, die ihr begegnen und auffallen, und Entwicklungen, die sie anhand eines Streifzugs durch die Geschichte nahe bringt.

Sie kommt dabei auf sich langsam verändernde Sichtweisen zu sprechen, die sowohl den Einfluss der Religion, als auch die Sicht auf Arbeit betreffen. Hieraus lassen sich auch die Veränderungen im Denken und Handeln erkennen, die sie anhand historischer Persönlichkeiten und ihrer jeweiligen Zeit beschreibt.

Ihrer Meinung nach braucht unsere heutige Gesellschaft die Konkurrenz von Armut und Reichtum, um das Streben nach Geld zu rechtfertigen, dass den einen Mühsal beschert und den anderen Entfaltungsmöglichkeiten. Es wird deutlich: Die Menschen brauchen Abgrenzungsmöglichkeiten zur Armut, um sich in besseren finanziellen Verhältnissen sicherer und angstfreier entfalten zu können. Einst war Armut inmitten der Gesellschaft, doch erfahren Arbeitslose mehr und mehr Ausgrenzung, weil die Gesellschaft nicht daran erinnert werden möchte, dass Armut existiert.

Die Menschen in Arbeit lernen, sich in der Welt zu bewegen, während Arbeitslose auf ihre Arbeitslosigkeit reduziert werden. Die Autorin beschreibt das so: Menschen mit Arbeit und Menschen mit Wohlstand wird von der Gesellschaft zugestanden, dass sie sich Wertungen, Meinungen und Wünsche erlauben. Wer ohne Arbeit dasteht, wird hiervon ausgeschlossen, denn das einzige Streben soll sich auf Arbeit richten, um wieder dazuzugehören und mitmachen zu dürfen.

Der Blick auf den Konsum wird von Mayr aus einer, aus früheren Zeiten hergeleiteten Perspektive beschrieben, die ans Bürgertum angelehnt ist. Aristokratie, Bürgertum, Arbeiterbewegung spiegeln sich in Protz, angemessenen Konsum und Schund. Es gibt einen Geltungskonsum, der über die geleistete Arbeit bewertet wird. Wer sich nicht einfügt, lebt verkehrt. Leisten darf sich, wer etwas geleistet hat. Arbeitslose werden ausgegrenzt, bleiben außen vor und gehören nicht dazu.

Arbeitslose fühlen sich oft in der Welt nicht willkommen, weil ihnen das Gefühl vermittelt wird, überflüssig zu sein. „Die Wirtschaft macht Menschen arm, aber erst die für arme Menschen gewählte Bezeichnung ‚sozial schwach‘ stempelt sie dazu“, stellt die Autorin fest. Den Armen werde das Problem zugeschoben, das durch die verursacht wird, die die Macht haben, genau diesen Zustand zu verändern.

Es klingt an, dass das nicht verändert werden wird, weil im Kapitalismus die Furcht vor einem möglichen Abstieg gebraucht wird, damit die Menschen mit Arbeit weiter im Sinne des aufgebauten Systems funktionieren. Wer raus ist, dem wird der Wiedereinstieg erschwert, denn es soll einfacher sein im System zu bleiben, als (wieder) rein zu kommen. Wer scheitert mit Arbeit und Arbeitsplatz, soll sich selbst verantwortlich fühlen und sich bemühen, wieder schnell dazuzugehören.

Für die Autorin ist nicht Reichtum der Gegensatz zu Armut, sondern Freiheit. Wer Geld hat, hat mehr Freiheit und kann das eigene Leben besser gestalten. Eine Gesellschaft ohne Gerechtigkeit wird unmoralischer, und auf diesem Weg sieht die Autorin unsere Gesellschaft. Sie findet es daher wichtig, dass der Staat sich um verbesserte Lebensbedingungen der am Existenzminimum lebenden Menschen bemüht.

Für mich hat sich das Buch als eines herausgestellt, das sich sowohl einfach runterlesen lässt, als auch als eines, das ziemlich sperrig sein kann. Die inhaltliche Schwere, journalistisch gekonnt locker beschrieben, lädt je nach eigener Stimmung dazu ein, distanziert darüber wegzulesen oder den Inhalt näher an sich ranzulassen, zu verweilen und über das, was die Autorin schreibt, intensiver nachzudenken. Dabei finden sich Passagen, denen man sich leicht anschließen kann, aber auch Passagen, gegen die man sich innerlich sträuben und widersprechen kann. Die Autorin ist bemüht, nicht von oben herab zu schreiben, aber ihre berufliche Stellung bringt einen Blick auf „die da unten“ einfach manchmal mit sich.

Buchbesprechung von Demokratiebegleiter Jürgen Schock