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Buchbesprechungen

Wissen ist ein elementarer Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft und viel Wissen findet sich in Büchern. Die Demokratiebegleiter/-innen wählen deshalb Bücher mit gesellschaftlich relevanten Themen aus. Das Besondere dabei ist, dass sie diese auch selber rezensieren.

 

Roland Mierzwa

Eine comprehensive Ethik. Eine Ethik aus der Corona-Zeit für die Post Corona-Zeit

Lit Verlag Dr. W. Hopf/Berlin
Erstausgabe: 2020

Auf dem Foto zu sehen: Eine comprehensive Ethik von Roland Mierzwa Das Buch „Eine comprehensive Ethik. Eine Ethik aus der Corona-Zeit für die Post Corona-Zeit“ von Roland Mierzwa ist eine Reaktion auf die derzeitige Situation. Der Autor Roland Mierzwa ist Diakonischer Bruder der Ev.-Luth. Diakoniegemeinschaft zu Flensburg (Kaiserswerther Verband). Darüber hinaus ist er in der  Bahnhofsmission und freiberuflich wissenschaftlich tätig. Am Anfang postuliert Miertzwa, dass in der Corona-Krise ethische Begriffe neu vermessen werden und eine „ethische Tiefenschärfe“ deutlich werde. Der empathische Blick, so Mierzwa, nimmt viel stärker die „Verwundbarkeit“ und die „Verletzlichkeit“ wahr, ergänzt wird das durch eine Praxis der Anerkennung. Durch den Vorgang der Anerkennung wird dem Autor zufolge eine ethische Bewegung in Gang gesetzt, dieser Anerkennungsvorgang  ist nicht selbstverständlich, deutlich zu erkennen an Umgang mit Flüchtlingen. Die Bahnhofsmissionen sind ein Ort der Barmherzigkeit und des Mitgefühls; sie basieren auf Spenden. Zwar sind die Spende durch den „Shutdown“ zurückgegangen, eine wertvolle Ergänzung ist hier das Corona-Sofortprogramm der Deutschen Bahn Stiftung gGmbH in Höhe von 100.000€ betont der Autor. Dies ist ein besonders gute Beispiel die der Autor nennt, wie durch Außenstehende den „Bedürftigen“ geholfen werden kann.
In der „Corona-Krise“ sind bestimmte ethische Fragestellungen entstanden und besonders aufgefallen so der Autor. Er führt dazu mehrere Themen. Eines davon ist die häusliche Gewalt. Während des Lockdowns nahmen die Anrufe bei der Hotline in Singapur, Zypern und Argentinien um 30 Prozent zu. Für Länder wie USA und Italien verzeichnete Terre des Femmes dem Autor zufolge ebenfalls eine Erhöhung. Eine Woche vor Ostern 2020, gingen in Berlin 332 Notrufe wegen häuslicher Gewalt ein, die doppelte Anzahl im Vergleich zum Vorjahr.


Der Autor verweist auf Antje Joel die betont, dass es sich nicht um eine Ausnahmesituation handelt, sondern das jede dritte Frau auf der Welt mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt durch ihren Partner bzw. Ex-Partner ausgesetzt ist, in Deutschland sind das zwölf Millionen Frauen.
In systemrelevanten Berufen rückte die Frage der gerechten Entlohnung in den Vordergrund. Rund 90 Prozent der Menschen, die in systemrelevanten Berufen tätig sind, verdienen unter dem Durchschnitt. Der Frauenanteil liegt bei 75 Prozent.
In der Corona-Krise sind sozialen Ungleichheiten deutlich sichtbar, so der Autor. Besonders deutlich wurde es in den Ländern Frankreich, Indien und Brasilien.
.In der Corona-Krise spitzt sich die Lage zu. Nach der Verbraucherorganisation Foodwatch droht Mangelernährung, unter anderem dadurch verursacht, dass die Tafeln geschlossen haben, warme Mahlzeiten in  Kitas und Schulen wegfallen und sogenannte „Bevorratungskäufe“ nicht mehr möglich sind. In diesem Kontext ist für den Autor eine gerechte Lösung für Hartz-IV-Empfänger notwendig z.B. in Form eines Einkaufsgutscheins im regionalen Handel in Höhe von 250€, oder ein „Bevorratungszuschuss“ sowie das „bedingungslose Grundeinkommen“. Die besondere Verletzlichkeit infolge von absoluter Armut lässt sich anhand des Beispiels Afrikas besonders gut verdeutlichen, so Mierzwa. Steigende Infektionszahlen treffen hier auf ein schwaches Gesundheitssystem.
 Zusammengefasst lässt sich dem Autor zufolge sagen, dass die Corona-Krise insbesondere eine Krise der Frauen ist. „Durch die Dynamik der Corona-Krise wurde die Lebenswirklichkeit der Frauen und Mädchen in ihrer Fragilität, im Prekären und ihrer Verwundbarkeit deutlich“. Hier geht der Autor präzise auf die Lebenswirklichkeit der betroffenen Frauen und Mädchen ein und gestaltet ein nachvollziehbares Bild davon.
Mierzwa schreibt, dass mit der „Vorrangigen Option für Arme“ in der Corona-Krise vorwiegend an Kinder mit Sozialleistungen gedacht werden könnte, bei den kostenlose Mittagessen in Kita und Schulen wegfällt und die Tafel schließen. Er verweist auf  Irene Jons vom Kinderschutz, sie betont, dass in diesem Kontext die Wirtschaft in den Vordergrund rückt, jedoch Familien mit besonderer Belastung keine Berücksichtigung finden. Dadurch wurde deutlich, wie brüchig der Sozialstaat Deutschland und wie mangelhaft die „Gerechtigkeits-Decke“ ist, so der Autor.
Mierzwa zufolge ist in diesem Zusammenhang die Gerechtigkeitstheorie von Martha Nussbaum relevant. Mierzwa schreibt: „Und menschliches Leben soll, wenn es gelingen darf, Spielen kennen, Zeit zum Nachdenken haben sowie Zeit zum Lieben und Trauern“. Gerecht ist es, menschliches Leben mit Nahrung zu versorgen und ein Schutz vor Gewalt zu gewährleisten. In diesen Rahmen stellt sich dem Autor zufolge auch die Frage, ob politische Autoritäten sich ihrer Verantwortung stellen. Im Falle von China und Brasilien wurde deutlich, dass die politischen Führer sich (anfänglich) ihrer Verantwortung entzogen haben; es wird hier sichtbar, inwieweit die Politiker für das gesellschaftliche „Wohl“ und „Überleben“ sorgen können. Kritik wird ausgeübt, so der Autor, dass Politiker sehr gerne auf die Expertenmeinung warten und so nur zögerlich Verantwortung übernehmen. Dabei ist es von großer Bedeutung, dass schnell und präzise in der Corona-Krise von Seiten der Politik reagiert wird.
Der Autor nennt dazu Günther Thomas Überlegungen „ (…) weil z.B. 1, 5 Milliarden Menschen nicht wie ein Stuhlkreis zu organisieren sind bzw. sehr große Verantwortungsräume unter Zeitdruck effizient schein bar (oder anscheinend?) nur in einer halb-diktatorischen Weise zu organisieren sind, dass wir uns fragen müssen, ob in einem gewissen Umfang ein De-Globalisierung und eine „Verdorflichung“ der Gesellschaft einzuleiten ist, damit eine empathische Solidarität wirkmächtig werden kann/ bleiben kann“. Der Autor ist der Ansicht, dass es aufgrund des Shutdowns von großer Wichtigkeit ist „globale Lieferketten“ etc. zu erörtern. Eine neue „Gemeinsamkeit“ werde zu einer anderen Zusammensetzung von unserer Wirtschaft und Technik und unsere Lebensweise führen. Die „imperiale Lebensweise“ wird kritisiert so Mierzwa, dadurch werden „Konsummuster und Konsumnormen“ hinterfragt.
Der Autor schreibt: „Man müsste meinen, dass unter der Corona-Krise ein stärkeres Bewusstsein für internationales solidarisches Handeln erwacht sein müsste, weil nun den Menschen deutlicher geworden sein müsste, dass es eine Verbindung zwischen der eigene Situation und der Situation der anderen geben würde, nämlich darin, dass ein gemeinsames Bewusstsein von Verletzlichkeit einerseits entstanden ist, aber auch davon, dass die Verletzlichkeit aus internationalen und globalen Bezügen resultiert.“ Das (nationale) Gemeinwohl so Mierzwa, lässt sich ohne eine solidarischen Weltbezug nicht realisieren.
Mit dem Buch „Eine comprehensive Ethik. Eine Ethik aus der Corona-Zeit für die Post Corona-Zeit“ hat der Autor spannende Fragen aufgeworfen; daher kann das Buch allen Lesern empfohlen werden. Er verwendet kurze und prägnante Sätze und ist gut zu verstehen. Der Autor kann den Leser klar vermitteln, warum eine comprehensive Ethik notwendig ist. Alle wichtigen inhaltlichen Ansätze zu einer umfassenden Ethik für die Corona-Zeit bzw. für die Post Corona-Zeit werden genannt.