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Buchbesprechungen

Wissen ist ein elementarer Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft und viel Wissen findet sich in Büchern. Die Demokratiebegleiter/-innen wählen deshalb Bücher mit gesellschaftlich relevanten Themen aus. Das Besondere dabei ist, dass sie diese auch selber rezensieren.

 

Wilhelm Heitmeyer

Autoritäre Versuchungen

Edition Suhrkamp Verlag
Erstausgabe: 22.10.2018

Als Folge der Bundestagswahlen 2017 ziehen in Gestalt der Alternative für Deutschland (AfD) – nach zweiundsechzig Jahren! – erstmals wieder Vertreter des autoritären Nationalradikalismus in den Bundestag ein. Vorausgegangen ist diesem verstörenden Ereignis eine Serie von politischen Erfolgen auf Landesebene, vor allem im Osten Deutschlands, im Zusammenspiel mit bundesweit zunehmend militanter werdenden Bürger- und Protestbewegungen, wie beispielsweise den Identitären (IB) oder PEGIDA.
Wilhelm Heitmeyer, bekannter deutscher Soziologe, Erziehungswissenschaftler und Autor zahlreicher Fachpublikationen, sagte diese Entwicklung bereits vor zwanzig Jahren Voraus und greift seine damaligen Thesen nun in seinem neusten Buch erneut auf, um auf deren Grundlage eine gründliche Analyse der vielfältigen und verschachtelten Prozesse, die auf unsere Gesellschaft eingewirkt und sie für autoritäre Versuchungen und radikale Ideologien anfällig  gemacht haben, vorzunehmen.

Eine kurze Zusammenfassung Heitmeyers einleitender Analyse:

Autoritärer Kapitalismus, umfassende Globalisierungsprozesse und Krisen, wie beispielsweise die Finanzkrise 2008, haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu massiven Desintegrations- und Abstiegsängsten ganzer Bevölkerungsteile einerseits, und einer besorgniserregenden Demokratieentleerung auf politischer Ebene andererseits geführt. Begleitet wurde diese Entwicklung von einem allgemeinen gesellschaftlichen Wertewandel, der, vornehmlich durch den Einfluss kapitalistischer Marktnormen und Prinzipien geprägt, den zivilen Diskurs mehr und mehr verrohen ließ.
Die neoliberale Unterordnung politischer Entscheidungsprozesse unter die sogenannten „wirtschaftlichen Sachzwänge“ wurden dem Bürger von Seiten der Regierung nur noch lakonisch als „alternativlos“ kommuniziert und letztlich aufgezwungen. Gleichzeitig griff man die sozialen Sicherungssysteme mit Kampfbegriffen wie „Eigenverantwortlichkeit“ und „Sozialdarwinismus“ an, während man sie erfolgreich aushöhlte, was die Solidargemeinschaft mehr und mehr zersetzte.

Die Politik verkommt in einem solchen System zum reinen Verwaltungsakt – der politische Diskurs zu einem Schaukampf. Viele Wähler wiederum, denen das nur allzu bewusst ist, sehen sich auf dem Abstellgleis. Entmachtet. Entmutigt. Von der Regierung, in Form von Wahlen, nur noch zur Teilhabe an jenem belanglosen Possenspiel zugelassen. Die natürliche Folge hiervon ist jene wachsende Nachfrage nach autoritären politischen und zivilgesellschaftlichen Angeboten, welche dann nur allzu gerne durch die eingangs erwähnten Akteure bedient wird.

Eine tiefgehende und detaillierte Auseinandersetzung mit der Thematik:

Heitmeyer analysiert in seinem Werk zunächst die einschneidenden Ereignisse jenes Zeitraums, in dem die Radikalisierung stattgefunden hat, den autoritären Nationalradikalismus selbst, dessen innere Struktur, sein spezifisches Vokabular und die psychologischen Mechanismen, mit denen es ihm gelingt, die für ihn anfälligen Personengruppen zu mobilisieren. Dann widmet er sich den vielfältigen Gründen, die dazu geführt haben, dass die Abwehrfähigkeit unserer Gesellschaft gegenüber autoritären Versuchungen mehr und mehr geschwächt wurde und sich diese schließlich, wie beschrieben, manifestieren konnten.
Diesbezüglich kritisiert er vor allem das politische und wirtschaftliche Establishment, das über viele Jahre hinweg die deutlichen Warnsignale ignoriert beziehungsweise bagatellisiert habe, sei es nun die sinkende Wahlbeteiligung, das Erstarken autoritärer Angebote im zivilen und politischen Bereich oder die stetig schärfer werdende Rhetorik des Bürgertums gegenüber diverser Randgruppen und sozial schwächer gestellten Mitbürgern.

Und was heißt das für die Zukunft?

Wehret den Anfängen! Dieses Sprichwort, das sich auf die schleichende Machtergreifung einer autoritären Regierung bezieht, geistert seit Jahrzehnten durch die Medienlandschaft. Doch dieser Zug ist längst abgefahren! Die zeitliche Epoche jener Anfänge liegt bereits Jahrzehnte zurück und wurde, wie bereits erwähnt, großflächig von Politik, Medien, Zivilgesellschaft und Wirtschaft, verkannt – oder bewusst übersehen. Für ein politisches Umsteuern gibt es zudem momentan keine Anzeichen. Zu fest verankert scheinen die „Sachzwänge“, zu mächtig das Kapitalismus-Paradigma. Die Politik bemerkt zwar, dass der gesellschaftliche Wind sich gedreht hat und es längst „fünf-vor-zwölf“ ist, will daher auch dringend was ändern, und ist auch bereit so ziemlich alles zu ändern – außer natürlich die problematische Wirtschafts- und Sozialpolitik selbst!

Daher ist Heitmeyers Ausblick auch ernüchternd pessimistisch: Er stellt zwar am Ende des Buches klar, dass man die Entwicklung einer ganzen Gesellschaft nur schwer voraussagen kann, zu viele Faktoren gilt es zu berücksichtigen, zu komplex deren Zusammenspiel.
Außerdem weist er darauf hin, dass ein ausgereifter, systematischer Faschismus – der durch eine „obsessive Beschäftigung mit Niedergang, Demütigung oder Opferrolle einer Gemeinschaft und durch kompensatorische Kulte der Einheit, Stärke und Reinheit“* bestimmt ist – bislang in der Gesellschaft nicht fußfassen konnte. Noch handelt es sich lediglich um faschistische Tendenzen. Um das Ruder dennoch herumzureißen, müssten sich jedoch großflächig Bürgerbewegungen bilden, die eine große Anzahl von Menschen mobilisieren können, um der Politik dann solange unbequem im Nacken zu liegen, bis diese bereit ist, die massiven notwendigen politischen Veränderungen einzuleiten.
Und auch wenn sich ein solches Unterfangen als schwierig herausstellen sollte, es ist immerhin möglich!

*Definition des Historikers Robert Paxton