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Buchbesprechungen

Wissen ist ein elementarer Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft und viel Wissen findet sich in Büchern. Die Demokratiebegleiter/-innen wählen deshalb Bücher mit gesellschaftlich relevanten Themen aus. Das Besondere dabei ist, dass sie diese auch selber rezensieren.

 

Dirk Neubauer

Rettet die Demokratie! Eine überfällige Streitschrift

Rowohlt Taschenbuch Verlag
Erstausgabe 2021

buchbesprechung rettet die demokratieDieses Buch ist eine scharfsinnige Analyse unseres derzeitigen politischen Systems, außerdem ein Praxisbericht eines Bürgermeisters, der Pionierarbeit geleistet hat. Autor Dirk Neubauer, Bürgermeister der sächsischen Stadt Augustusburg, ist der Meinung, dass unser politisches System dringend geändert werden muss. Unsere Demokratie sei in Gefahr, wenn wir alles so weiterlaufen ließen. Die starren Hierarchien der politischen Systeme in Deutschland müssten radikal aufgebrochen werden. Auch schreckt Neubauer nicht davor zurück, die Rolle von Parteien zu hinterfragen.

 Alles, was geht, müsse durch direkte Bürgerbeteiligung vor Ort in den Kommunen entschieden werden.Dass dies möglich ist, hat Neubauer bereits in seiner Stadt bewiesen, in der sich die Bürgerzufriedenheit signifikant verbessert hat. Dabei liegt der Schwerpunkt des Buches auf der politischen Situation im Osten Deutschlands, die sich jedoch größtenteils auf das gesamte Deutschland übertragen lässt. Neubauer analysiert die Entwicklung der Politik seit der Wiedervereinigung Deutschlands und kommt zu einem ernüchternden Resümee: „Unsere Demokratie stirbt. [...] Es macht sich Wut breit in unserem Land - und dies zeigt sich besonders im Osten. Zwischen Politik und Menschen klafft ein Graben, der immer tiefer wird.“ Diese Wut drücke sich, besonders im Osten, in der steigenden Beliebtheit der AfD aus. Es sei eine Wut auf das politische System selbst, das den Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl gäbe, nicht gehört zu werden. Die AfD sei zum Sammelbecken geworden, für all diejenigen, die zweifeln, schimpfen oder tatsächlich etwas ändern wollen. Die Bürger verstünden die Politik nicht mehr, was vor allem an der überbordenden Bürokratie und einer verkrusteten Verwaltung läge. Sie sehnten sich nach einer Welt, in der sie gehört und beteiligt werden.

Dass die Bürger sich nicht gehört fühlen, ist laut Autor berechtigt, denn die Parteien vertreten das Volk nur in der Theorie. In Wirklichkeit sähe es anders aus: „Der parteipolitische Apparat kreist um sich selbst. Machtsicherung steht über Veränderung und vorwärts. Die Bürgerinnen und Bürger wenden sich in Scharen ab und wechseln in den außerparlamentarischen Protest. Das große Parteiensterben hat begonnen. Wenn wir nicht alles anders machen, stirbt auch die Demokratie.“
Laut Neubauer misstraut der Staat den Bürgerinnen und Bürgern und wundert sich dann seinerseits, dass ihm Misstrauen entgegenschlägt: „Die Menschen brauchen wieder eine Stimme, die nicht nur einmal alle paar Jahre bei Wahlen Niederschlag findet. Sie müssen lernen, aber auch erleben können, dass ihre Stimme in unserer Demokratie zu jeder Zeit zählt. Die Menschen müssen wieder spüren, dass man ihnen vertraut. Ihnen etwas zutraut. Sonst werden wir nicht erwarten können, dass sie dem System vertrauen.“

Immer wieder macht der Autor deutlich, wie wichtig es ist, dass die Kommunen wieder mehr Entscheidungsbefugnisse und finanzielle Spielräume bekommen, denn sie sind das Herzstück der Demokratie. Hier können die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar erfahren, was ihre Beteiligung bewirkt. Doch dies in die Praxis umzusetzen, bleibe bisher ein Traum: „Keine Fraktion verfolgt ernsthaft die Absicht, im Bereich Förderpraxis, Bürokratieabbau und Eigenverantwortlichkeit der Kommunen etwas grundlegend ändern zu wollen.“ Die Entwicklung verlaufe momentan sogar eher gegenteilig.
Als Lösungen schlägt der Autor unter anderem vor,

  • die Amtszeiten auf höchstens zwei zu begrenzen, und zwar auf allen Positionen. Das garantiere personelle Bewegung und Erneuerung.
  • die Listenwahl abzuschaffen. Stattdessen sollen Kandidaten direkt durch den Bürger bestimmt werden.
  • den Bürger und die Bürgerin als Souverän wiederzuentdecken, zum Beispiel in Form von Bürgerräten und einer neuen Streitkultur.
  • den Finanzhaushalt zu vereinfachen und die Bürger an den Entscheidungen dazu zu beteiligen.
  • der Verknüpfung von Politik und Beruf ein Ende zu setzen, denn das zieht diejenigen an, die in erster Linie ihre eigene Karriere und erst dann das Wohl der Wählerinnen und Wähler im Blick haben. Die lukrative Berufsperspektive zieht auch Berufsanfänger an, was zu einer weiteren Entkopplung zwischen Politik und richtigem Leben führe: „Es liegen Welten zwischen Berufspolitik und dem Rest der Welt.“
  • Parteienspenden zu begrenzen, denn sie verhindern Unabhängigkeit.

Doch die wichtigste Frage für die Parteien sei, ob die Ziele, die aus der Partei heraus verfolgt werden, mit denen der Bürgerinnen und Bürger übereinstimmen. Deren Meinung herauszufinden sei nicht einfach, doch es gäbe bereits Möglichkeiten. So gibt es in Augustusburg Bürgerprojekte, die von den Bürgerinnen und Bürgern selbst vorgeschlagen und von der Stadt finanziert würden.
Neubauer betont auch, wie wichtig der regelmäßige Austausch zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und dem Rathaus ist, und gibt dafür Beispiele aus seiner Praxis in der Kommune. So etablierte er verschiedene digitale Medien und Plattformen, bei denen ein beiderseitiger Austausch möglich war. Außerdem wurden leicht erreichbare Bürgerfragestunden eingerichtet. Jedes größere Bauprojekt wird in Augustusburg in einer öffentlichen Bürgerkonferenz vorgestellt und diskutiert: „Weg vom Überkümmern. Hin zum Ermöglichen. Ein längst überfälliger Schritt in einer freien, demokratischen Gesellschaft.“

Ein weiterer Fehler, durch den Parteiführungen zuviel Macht erhalten, ist laut Neubauer die Tatsache, dass die Basis der Parteien, also die Mitglieder, kaum Einfluss nehmen können. Und dies ist laut Neubauer so gewollt. Dagegen müsse angegangen werden. Der Autor fordert die Bürgerinnen und Bürger auf, sich wieder mehr einzubringen: Mitglied zu werden, selbst Parteien zu gründen, Bürgerräte zu schaffen. Das bisher bestehende politische System müsse öffentlich hinterfragt werden und es müsse eine klare Ausrichtung auf die Basis vor Ort geben.

Im Laufe des Buches wird immer wieder klar, dass der Staat den Bürgerinnen und Bürgern vertrauen und Probleme in ihrem Sinne lösen muss. Momentan sind die Parteien dagegen hauptsächlich damit beschäftigt ihre Macht zu erhalten. Dieses Buch ist eine klare Anleitung, was in unserer Politik passieren muss, um sie wieder auf den richtigen Kurs zu bringen. Es liest sich gut und ist verständlich geschrieben. Besonders wertvoll finde ich die Praxisberichte aus der Arbeit als Bürgermeister, sie zeigen konkret, wie etwas geändert werden kann. Dies ist ein Zeugnis eines mutigen Politikers, der fernab von eingefahrenen Wegen handelt und dem das Gemeinwohl wichtiger ist als sein persönlicher Vorteil. Von solchen Menschen bräuchte es viel mehr in der Politik.

Buchbesprechung von Demokratiebegleiterin Elene Böcher