Ulrich Lilie
Unerhört!
Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft
Erstausgabe: 17. 09. 2018
Menschen sind verschieden, das ist kein Geheimnis. Und verschiedene Ansichten und Interessen führen nicht selten zu Konflikten, auch das ist nichts Neues. Doch wo es Unterschiede gibt, gibt es in der Regel auch Gemeinsamkeiten, weswegen doch zumindest Hoffnung besteht: Was also haben Quartalquerulanten und Berufsbeleidigte unterschiedlichster sozialer Schichten, wütend vor sich hin pubertierende Vandalen ohne Perspektive, Männer in der Midlife-Crisis, Pensionäre mit Überfremdungsängsten und Rentner, die jeden Cent zweimal umdrehen müssen am Ende vielleicht doch gemeinsam? Ein vages Gefühl der Entfremdung vielleicht? Schwelende Unzufriedenheit, weil erbrachter Lebensleistung von keiner Seite mehr aus die angemessene Würdigung und Anerkennung entgegengebracht wird? Oder vielleicht die dumpfe Gewissheit, dass jegliches Engagement, sei es beruflicher oder politischer Natur, am Ende ebenso effizient ist, wie der jährliche Frühjahrsputz mit einer Zahnbürste?
Ulrich Lilie, Diakonie-Präsident und Vorsitzender des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung, verwundert es jedenfalls kaum, dass die Menschen zunehmend ängstlicher und unzufriedener werden: Immer weiter steigende Lebenshaltungskosten bei gleichzeitig unsicherer werdenden Arbeitsmarktbedingungen fordern eben ihren Tribut und wecken ernsthafte Zweifel an unserem hochgelobten doch selten hinterfragten Politik- und Wirtschaftssystem. Zusammen mit den vielen verstörenden Ereignissen der vergangenen Jahrzehnte wie dem Mauerfall, den Terroranschlägen am elften September 2001 oder der Finanzmarkt- und Eurokrise entsteht eine bedrohliche Atmosphäre der Hilf- und Machtlosigkeit, während die zukünftigen Herausforderungen wie der Klimawandel oder die Überalterung der Gesellschaft drohend über uns hängen wie ein Damoklesschwert. Es wird also höchste Zeit, uns auf unsere Gemeinsamkeiten zu besinnen und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. Doch um zu erkennen, was wir gemeinsam haben muss man zunächst miteinander reden, und vor allem: Einander zuhören. Wirklich zuhören! Nicht einfach nur den Redefluss unterbrechen und warten, bis der andere fertig ist, damit man weiterquasseln kann. Denn gegenseitiges Verständnis schafft Vertrauen, und vertrauen stärkt den Zusammenhalt. Zudem entsteht Zusammenhalt durch die gemeinsame Sorge für andere!
Von diesem Leitmotiv ausgehend stellt Lilie zahlreiche Projekte und Initiativen vor, die von und mit sozialen Trägern, aufgeschlossenen und bürgernahen Volksvertretern, Kirchen, Vereinen und natürlich sozial engagierten Menschen aller Altersstufen ins Leben gerufen wurden, die nicht nur lange bekannte und sich zuspitzende Probleme wie beispielsweise die immer kostspieliger werdende Kinder- und Altenbetreuung oder die mangelhafte Nahversorgung in vielen ländlichen Regionen aufgreifen, sondern aufgrund ihrer Konzeption auch noch eine zusätzliche soziale Dimension haben. Man sorgt miteinander füreinander, mit dem Ziel, das Leben für alle zu verbessern. Und gemeinsam ausgehandelte und verfolgte Ziele schaffen eine gemeinsame Identität. Und für eine Gesellschaft der niemals enden wollenden Selbstpromotion und einer alle Lebensbereiche durchdringenden Werbementalität, in der der schöne Schein alles ist und Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit bestenfalls noch, solange kein Schaden an der glitzernden Fassade zu befürchten ist, vage toleriert werden, sind derartige Projekte ein hochwirksames und notwendiges Gegengift. Landesweit gezielt verabreicht, lässt sich der gesellschaftliche Kurs hoffentlich korrigieren und eine für alle Menschen gleichermaßen lebenswerte Gesellschaft kreieren. Ein Ziel, mit dem sich doch hoffentlich alle Menschen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, identifizieren können.