Julia Friedrichs
Working Class - Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können
Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München
Erstausgabe 2021
Julia Friedrichs begleitet in ihrem Buch, das teils Reportage ist und teils theoretische Überlegungen zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage unseres Landes beinhaltet, verschiedene Menschen aus der „Working class“ – der arbeitenden Mittelschicht. Aus den Erfahrungen, die diese Menschen machen und gemacht haben, versucht Friedrichs Schlüsse zu ziehen. Was ist gerechte Arbeit und vor allem was ist der gerechte Lohn für diese Arbeit? Wie können wir mit der Arbeit, die wir verrichten, glücklich werden? Friedrichs lässt die Leser ganz nah ran an die Leben dieser Menschen. Und sie zeigt uns, was passiert, wenn eine Corona-Pandemie ins Leben dieser Menschen kommt.
Sait, ein Herr mittleren Alters, ist angestellt bei der Berliner Straßenbahn als Reinigungskraft, er kümmert sich um die Sauberkeit in den Haltestellen. Sait erzählt viel von früher, als es noch die D-Mark gab und die Menschen mehr Respekt hatten. Und er noch den Traum, von seinem Gehalt gut und relativ wohlhabend zu leben. Die Dinge, die er täglich sieht, wären für die meisten nur schwer zu ertragen, sie sind weit weg von der Realität der Fahrgäste. Doch Sait nimmt es hin: Erbrochenes, Exkremente, Drogenspritzen. Bereits bei Sait sieht man schon die Folgen von Corona: Viele seiner Kollegen und Kolleginnen melden sich krank – aus Angst vor der Krankheit. Und Sait wird gefeiert als „Corona-Held“.
Alexandra ist Musiklehrerin, ihr Ehemann auch. Sie haben zwei Kinder und leben in einem schönen Haus. Doch obwohl beide hervorragend ausgebildet sind, haben sie keine Festanstellung. Sie müssen neben dem Unterricht an Schulen auch viele Schüler und Schülerinnen privat unterrichten. Als Corona kommt, stellt Friedrichs ihnen die Frage: „Wie lang würde es reichen, theoretisch, wenn ihr nur noch von eurem Ersparten leben müsstet?“ „Einen Monat“, antwortet Alexandra.
Christian war beruflich sehr erfolgreich, arbeitete in einem angesehenen Unternehmen, in dem er gut verdiente. Doch plötzlich wurde ihm die Arbeit zu viel, er stürzte vor einen Zug – ob mit Absicht oder als Unfall, daran kann er sich nicht erinnern. Friedrichs zeigt uns hier jemanden, der trotz Unfall wieder zurück ins Leben möchte und kämpft, um seinen Status wieder zu erlangen. Natürlich geht es nicht nur darum, dass Christian diesen Unfall hatte, sondern darum, warum ihm dies zugestossen ist.
Eine These von Friedrichs ist, dass viele Menschen aus der Mittelschicht abgestiegen sind, in ein neues Prekariat. Die Gründe dafür sind zum einen immer niedriger werdende oder stagnierende Löhne, aber auch die Tatsache, dass es schwierig ist, Vermögen aufzubauen, wenn man nicht so viel verdient. Warum ist es so wichtig zumindest etwas Vermögen zu besitzen? Man braucht Rücklagen, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, die Pandemie ist nur ein Beispiel. Auch die Möglichkeit zu investieren, zum Beispiel in Immobilien, ist wichtig. Friedrichs beschreibt, dass es für die Generation vor uns wesentlich einfacher war, ein Vermögen aufzubauen.
Das gesellschaftliche Ziel, obwohl Friedrichs es nie so formuliert, ist: Wohlstand für alle. Friedrichs weiß natürlich, dass dies so schnell nicht zu bewältigen ist. Umverteilung, höherer Mindestlohn, höhere Besteuerung auf Erbschaften – all dies sind Möglichkeiten, den Wohlstand unserer Gesellschaft, für alle in ihr, zu erhöhen. Darum ist ihr Anliegen, in diesem Buch darzustellen, wie wichtig es ist, die arbeitende Mittelschicht zu unterstützen – vor allem finanziell, auf dass sie nicht den Anschluss verliert, an den Traum vom Wohlstand und guten Leben.
Andreas Kraft