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Buchbesprechungen

Wissen ist ein elementarer Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft und viel Wissen findet sich in Büchern. Die Demokratiebegleiter/-innen wählen deshalb Bücher mit gesellschaftlich relevanten Themen aus. Das Besondere dabei ist, dass sie diese auch selber rezensieren.

 

William T. Vollmann

Arme Leute Reportagen

Edition Suhrkamp SV
Erstausgabe: 11. 06. 2018

„Armut“, ein Wort, das jeder kennt, viele regelmäßig gebrauchen, manche missbrauchen, letztlich aber nur wenige verstehen – zumindest derer, die in der Regel zum Thema befragt werden, also jene, die sich lediglich intellektuell und analytisch mit dem Problem befassen und versuchen Lösungen zu finden. Für William T. Vollmann, vielfach preisgekrönter Autor zahlreicher Romane, Erzählungsbände und Sachbücher, ist dieses Missverhältnis untragbar, und Grund genug die Welt zu bereisen und mit Betroffenen zu sprechen, mit dem schwierigen Ziel, dem abstrakten Armutsbegriff konkreten Gehalt zu verleihen und den Befragten, die den meisten Menschen nur als vage Statistik oder in Form eines gelegentlichen lästigen Aufbäumens des ansonsten trägen und abgestumpften Gewissens in den Sinn kommen, ein Gesicht und eine Stimme zu geben. Das Ergebnis ist ein rund 320 Seiten umfassendes Sammelsurium persönlicher Armutserfahrungen und behutsamer Auseinandersetzung mit dem Thema, bei dem es der Autor bewusst unterlässt, sich auf den ansonsten von Kollegen so gern eingenommen professionellen Abstand zum „Forschungsgegenstand“ zurückzuziehen.

Stattdessen stellt er sich stets die Frage nach der angemessenen Sichtweise, und nicht selten in Frage, ob er als reicher Amerikaner überhaupt zu einer eigenen berechtigt ist. Ist es herablassend und bevormundend, verschiedene Schicksale miteinander zu vergleichen und quasi festzulegen, wer hier im Einzelnen ärmer oder gar unglücklicher ist, oder ob zwischen beidem zwangsläufig ein Zusammenhang besteht? Gibt es diesbezüglich überhaupt objektive Kriterien, oder ist man als Außenstehender unweigerlich dazu verdammt, sich in einem unübersichtlichen Dickicht subjektiver Eindrücke und angelesenen Pseudoverständnisses zu verheddern?

Fragen dieser und ähnlicher Art sind für Vollmanns Methodik unerlässlich. Er stellt sie sich nicht nur selbst, sondern vor allem auch dem Leser, den er nicht selten direkt anspricht und damit am geistigen Schlafittchen packt. Unfähig sich zu entziehen, ist er genötigt hinzusehen und zuzuhören, zur passiven Erduldung verdammt, wie die Betroffenen zu ihrem Armutsschicksal. In diesem Sinne will das Werk nicht belehren, eher bekümmern; nicht verändern, mehr beharren – als leises Mahnmal der Ohnmacht und des demütigen Respekts vor der erbarmungslosen Lebenswirklichkeit armer Menschen, das zu keinem Zeitpunkt der beschwerlichen Odyssee aufhört, den Leser aus seiner Wohlfühlzone aus Privilegien, Ignoranz und selbstgerechter Selbsttäuschung zu reißen und mit deren vernichtender und endgültiger Erfahrungswelt zu konfrontieren.

Und ausgiebig konfrontiert, ist er am Ende der Lektüre weder klüger noch ist ihm wohler, nichts ist gut, oder würde es bald sein. Die richtigen Maßnahmen sind nicht eingeleitet, Entscheidungen wurden keine gefällt und es gibt keinen Grund auf Besserung zu hoffen. Denn so wie es aussieht, wird es Armut wohl immer geben; mit all den dazugehörenden drängenden Fragen, unzureichenden Antworten und natürlich den Menschen, die sie als einzige wirklich verstehen und davon berichten können – also jenen, denen, bis auf wenige Ausnahmen, doch niemand zuhört.